Otto Koenig behauptet in seiner Kulturethologie die Parallelität von evolutiven Prozessen mit Vorgängen in der Entwicklung der menschlichen Kultur. Eine dieser Verlaufsformen ist die These, wonach viele Arten verschwanden nachdem sie ihre größte Blüte und damit den höchsten Grad ihrer Anpassung erreicht hatten. Ein wunderbares Beispiel hierfür in der Technikgeschichte ist die Scheinblüte der Dampftraktion nach dem Zweiten Weltkrieg. Die 1E2 von Jindřich Kalčík, die 4000PS-Fünfzylinder-Verbund-1E2 von Adolf Wolff (richtig, dem Chefkonstrukteur der 05 [1]), die legendären "Futurés Locomotivés Francaisés" von André Chapélon, die 6000PS-Mallet von Eckhardt - sie alle entstanden zu jener Zeit auf den Reißbrettern. Von dem, was man jenseits des Atlantiks in den Konstruktionsbüros auf dem Papier hatte - Stichwort Duplex-Niagara, um nur ein Beispiel zu nennen - gar nicht zu reden.
Auch bei der jungen Bundesbahn hatte man zu jener Zeit, als der Strukturwandel noch in weiter Ferne lag, hochtrabende Pläne. Das vom Lokausschuss unter Friedrich Witte aufgestellte Typenprogramm enthielt allein fünf Güterzug-Schlepptenderlokomotivbaureihen, darunter eine Reihe 46 (eine 1'D1' mit 1600mm Kuppelraddurchmesser und 20t Achslast zur Ablösung der BR 41), eine Reihe 47, die mit der BR 44, die sie ablösen sollte, identische Kenndaten aufwies, und eine Reihe 48, gedacht als Ablösung für die Reihe 45. Sie sollte nicht nur eine größere Höchstgeschwindigkeit als ihre Vorgängerin haben - 100 gegenüber 90km/h - , sondern auch eine Achslast von sage und schreibe 23 Tonnen aufweisen. Sie lohnt eine nähere Betrachtung.
Am 30.12.1949 trug die DB Hauptverwaltung über das zuständige Baudezernat eine Anfrage hinsichtlich eines Entwurfes für die geplante überschwere 1'E1' Krupp an. In der Lokschmiede, in der man die Fortschritte in den Nachbarländern sicher auch äußerst interessiert verfolgt hatte - so waren z.B. die Entwürfe Chapélons für die "Futurés Locomotivés Francaisés" erst ein halbes Jahr zuvor in "Glasers Annalen", die man in Essen sicherlich auch las, publiziert worden - machte man sich ans Werk. Was man dann Anfang 1950 den Bundesbahn-Verantwortlichen vorlegte, war, sagen wir, beeindruckend. Anders ausgedrückt: Die Krupp war ein Monster:
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Der Riesenhobel kann mit so vielen bemerkenswerten Merkmalen aufwarten, dass man sie, will man den Rahmen nicht vollends sprengen, nur im Telegrammstil wiedergeben kann:
23 Tonnen Achslast. Dreizylinder-Verbundtriebwerk (die 242A1 lässt grüßen). Kesseldurchmesser von 2300mm (BR 45: 2017mm). Rostfläche 6,25 Quadratmeter (das ist das Doppelte der BR 23 und volle zwei Quadratmeter mehr als bei der 45er!). Dazu eine 1,20 Meter lange Verbrennungskammer, größer als die der 05 003. Üppig bemessene Wasserkammern. Doppelblasrohr. Automatische Rostbeschickung. 135 Tonnen Reibungslast. Fünfachsiger Tender mit zusätzlichem Wasservorrat und Hebeeinrichtung. Hab ich was vergessen?
Bevor wir uns mit der nicht minder interessanten äußeren Linie des Monsters befassen, sei ein spekulativer Blick auf seine Leistungsfähigkeit erlaubt. Seiler/ Ebel [2], wiederum meine Hauptquelle, sprechen von einer Lok, die mühelos die stündlich geforderte Dampfmenge von 20 Tonnen hätte überbieten können (zum Vergleich: BR 45 max. 18 Tonnen), in Verbindung mit einem Beschleunigungsvermögen, das dem einer E-Lok sehr nahe gekommen wäre und ältere Bauarten weit übertroffen hätte; zudem ausgestattet mit einem vorzüglich für Langstreckenfahrten geeigneten Kessel. Eine PS-Angabe ist, der Seriösität geschuldet, nicht zu finden; ich lasse mich mit einem Blick auf die Rahmendaten und die ganzen "Gimmicks" der Krupp zu der Aussage hinreißen, dass sie wohl die 4000PS-Marke geknackt und damit mit Wollfs 1'E2'-Entwurf gleichgezogen hätte.
In der äußeren Erscheinung zeigt sich die "Krupp" als Formsprachenmix aus Einheitslokomotive und den - gerade nach den "neuen Baugrundsätzen" entstehenden - Neubaudampflokomotiven der Deutschen Bundesbahn. Das Tenderfahrgestell ist das der 45er, der Aufbau ist jedoch als selbsttragende Schweißkonstruktion analog dem Vorratswagen der Reihe 23 ausgeführt. Sehr ähnlich zu dieser ist auch das Führerhaus konzipiert, fällt jedoch kürzer aus; Platz für Power war anscheinend wichtiger als für Personale. Auch die Lage der Steuerstange entspricht der der Personenzug-Neubaulok. Die Kesselaufbauten sind nach dem Vorbild der Reihe 42 in einem gemeinsamen Dom untergebracht. Die Vorderfront mit ihren schrägstehenden Umlaufblechen entspricht noch der klassischen Einheitslokbauweise und unterscheidet sich völlig von der neubekesselter DB-Dampfer wie 01 oder 042.
Rätsel gibt die Darstellung der Rauchkammer auf. In der Seitenansicht wirkt sie wie der "Kasten" des von 01 042, 046, 112, 154 und 192 bekannten Henschel-MVR-Mischvorwärmers.
Aber ein Henschel-Mischvorwärmer bei einem Krupp-Entwurf? Wie kann das sein? Zudem ist in der Seitenansicht der 48er eindeutig ein gestrichelter Kreis zu erkennen, gemeinhin die zeichnerische Darstellung eines Oberflächenvorwärmers. Seiler/ Ebel schreiben hierzu im Text:
"Damit, wie gefordert, optisch keine Abstriche zu machen waren, wollte man Mischvorwärmer und Doppelschornstein hinter Sichtblenden legen." (Seiler/ Ebel, a.a.O., S. 89)
Wie bitte?
Eine Teillösung des Rätsels findet man einige Seiten weiter im Baureihenbuch über die BR 45. Krupps klugen Köpfen war es gelungen einen Mischvorwärmer zu konzipieren, bei dem Bauteile der alten Oberflächenvorwärmeranlage weiterverwendet werden konnten: "Die Verwendung der Hülle des alten Oberflächenvorwärmers und die geringen Änderungsarbeiten an der Rauchkammer machten den Krupp-Mischvorwärmer gegenüber anderen Mischvorwärmern vor allem finanziell für die Bundesbahn interessant." (Seiler/ Ebel, a.a.O., S. 100)
Die Schlauberger hatten also einen Mischvorwärmer konstruiert der, aufgrund der Weiterverwendung der Bauteile des Oberflächenvorwärmers, aussah wie ein solcher. Aha. Und was hat es mit den "Sichtblenden" auf sich?
Sehen wir uns die Zeichnung (die ich leider aus urheberrechtlichen Gründen nicht einstellen darf) genauer an, so fällt auf, dass der Oberflächenvorwärmer (der in Wirklichkeit ein Mischvorwärmer ist) gestrichelt dargestellt ist. Das heißt, seine linke und rechte Grenze liegen innerhalb der beiden "Blenden", die wir einmal als Bleche interpretieren wollen. Dann aber müssten diese Blenden weit außen am Kessel, fast in Höhe der Kesselmitte, befestigt sein, von wo aus sie dann bis zur Oberkante des Doppelblasrohrs senkrecht nach oben gehen. Das sieht aus wie eine PKP-Ty51, der man zusätzlich noch ein paar Witte-Bleche verpasst hat; quasi eine "Vier-Windleitbleche-Lok", geradezu grotesk.
Interpretieren wir aber den Begriff "Sichtblenden" etwas offensiver so gestattete das die Verwendung solcher auch vorne und hinten, sprich, wir erhalten einen Kasten, wie ihn beispielsweise die 31 und 32 der Bentheimer Eisenbahn - mit ebendiesem Krupp-Mischvorwärmer ausgestattet - trugen; nur, dass deren Vorwärmeranlage natürlich erheblich kleiner dimensioniert war als bei unserem "Monster".
Damit erhalten wir einen Kasten und kommen so der optischen Anmutung des Henschel-MVR doch recht nahe. Der "Krupp-Kasten" ist lediglich höher - da er im Unterschied zur Henschel-Bauweise das Blasrohr mit einschließt - und fällt nach vorne in einem Hauch von Aerodynamik leicht ab. Dann bekommen wir dieses Erscheinungsbild:
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Kurz gesagt: Das eine sieht so befremdlich - und das ist nett ausgedrückt - aus wie das andere. Was an der Kombination Doppelblasrohr plus (wie der altbekannte Oberflächenvorwärmer aussehender) Mischvorwärmeranlage so entsetzlich gewesen sein soll dass man Seitens der DB Sichtblenden einforderte um "keine optischen Abstriche machen zu müssen", ist mir ein Rätsel. Für den die Optik der Einheitslok gewohnten Betrachter wäre das eine wie das Andere eine Verhunzung des Erscheinungsbildes gewesen.
Ohnehin: Warum man jetzt, ein Vierteljahrhundert nach der "Geburt" der Einheitslok; einer Konstruktion, die sich durch "kein Design" (Ebenfeld) auszeichnet, sich plötzlich dermaßen um die Erscheinung der Maschine sorgte und das dann auch noch bei einer Güterzuglok, deren Einsatzgebiet keinerlei Werbewirksamkeit erfordert, ist einfach nicht nachvollziehbar. Ironie der Geschichte: Die Mischvorwärmeranlage der Bauart Krupp, die die 48er so verunziert hätte, erwies sich als Flop. Nur 45 019 und 010 erhielten sie vollständig eingebaut, aus der 45 010 musste sie, noch vor (!) der Übergabe an die DB, wieder komplett entfernt und durch einen konventionellen Oberflächenvorwärmer Bauart Knorr ersetzt werden.
Die stärkste deutsche Dampflokomotive, die die 48er zweifellos gewesen wäre, sie wurde nie Wirklichkeit; das "Monster" wurde nie von der Leine gelassen. Wenn man sich ansieht, was man bei der CSD mit der wesentlich kleineren Reihe 556.0 beförderte kann man nur ahnen, wozu dieser Koloss in der Lage gewesen wäre. Warum erblickte sie nie das Licht der Realität?
Zunächst bedurfte es überhaupt keiner Nachfolgebaureihe für die 45. Abgesehen davon, dass fünf Maschinen neubekesselt worden waren (010, 019, 016, 021, 023) und weitere fünf einen neuen Hinterkessel erhalten hatten (012, 022, 008, 009, 014), gab es keine "Güterzug-Oberklasse", die nur durch die allesamt in Würzburg beheimateten "Goliaths" hätte bedient werden können. Das hätte in der Tat - und unter Berücksichtigung des hohen Schadlokbestandes der Reihe - betrieblich auch herzlich wenig Sinn gemacht [3]. So stellte das unterfränkische BW für seine 45er lediglich Mischpläne auf, die auch problemlos mit der Reihe 44 gefahren werden konnten. Die aber war in reichlicher Anzahl vorhanden, es bedurfte gar keiner "Über-Lok".
Der Traktionswandel tat ein übriges. Sicherlich, 1950 gab es in Deutschland keinen Diesel, der dem 4000PS-Verbunddrilling [4] das Wasser hätte reichen können. Doch schon 1953 erschien die V 200, die bekanntermaßen mehrfachtraktionsfähig war. So konnten zwei V200 mit einem Lokführer die Traktionsleistung erbringen, für die man eine mit zwei Mann besetzte 48er brauchte.
Und Strecken für 23 Tonnen Achslast gab es schlicht nicht. Die Strecken, die achslastertüchtigt werden sollten, waren gleichzeitig die Strecken, die auch zur Elektrifizierung vorgesehen waren. Mit einer E 50, die damals auf den Reißbrettern entstand, brauchte sich auch eine 48 nicht anlegen. Kurz: Wie die 10 war die 48 überflüssig, bevor sie gebaut wurde.
Aber, zugegeben: Von allen Entwürfen zu Nachkriegs-Neubaudampflokomotiven der Deutschen Bundesbahn ist die "Krupp" das Beeindruckendste, was ich je gesehen habe. Fast hat man den Eindruck, ihre geistigen Väter wollten noch einmal zeigen, wozu König Dampf in der Lage ist, wollten vielleicht - nicht zuletzt mit einem Blick auf Frankreich und die Tschechoslowakei - einen Pfahl einrammen der zeigt, "was geht". Von daher hat das "Monster" wie auch seine Schöpfer eine ehrfürchtige Annäherung in Bild und Text - und als exakt solche möchte ich meine Zeilen verstanden wissen - sicherlich verdient.
Grüße!
Christian
[1] Ein Königreich für einen Blick auf die Pläne. Mir ist der Entwurf leider nur als textliche Erwähnung bekannt. Vielleicht weiß ja hier jemand mehr?
[2] Ebel, U.-Jürgen/ Seiler, Bernd: die Baureihe 45. EK-Verlag, Freiburg 1996.
[3] Außer der 45 024 kamen alle 27 Maschinen der Baureihe 45 nach dem Krieg zur DB, wo sie - ausgenommen die bei den damaligen Lokomotiv-Versuchsämtern in Minden und München benötigten Maschinen - im BW Würzburg stationiert waren (45 002 wurde kriegsbeschädigt 1949 verschrottet). Im Dezember 1946 war nicht eine 45er betriebsfähig, im April 1951 fünf, Ende 1951 zwei, im Dezember 1953 sechs, im März 1954 fünf und im Juni 1954 zwei. Der Schadlokbestand lag bei 80%, die aufgrund von Schäden am Dampfdom angeordnete Reduzierung des Kesseldrucks auf 13 atü von Januar bis Mai 1952 hatte die wenigen, ohnehin vorhandenen Maschinen für den Betriebsdienst vollends untauglich werden lassen. Für eine Baureihe, wie leistungsfähig sie auf dem Papier theoretisch auch immer sein mochte, die in derart geringer Anzahl verfügbar war, bedurfte es in der Tat keines eigenen Umlaufplanes.
[4] Die Illustration bei Seiler/ Ebel zeigt den Drilling, der Text bezieht sich vornehmlich auf den Verbund-Drilling