Zitat von notbremse im Beitrag #3353
Dies gilt übrigens als prominentes Beispiel dafür, dass man im Zuge von Recherchen beachten muss, wie sehr Zeitzeugen irren können. Denn viele Zeitzeugen schworen später, schon im Mai 1955 im Fernsehen gesehen zu haben, wie Außenminister Figl auf dem Balkon des Schlosses Belvedere den österreichischen Staatsvertrag präsentierte. Da es im Mai 1955 in Österreich noch kein Fernsehen gab, ist das schlicht nicht möglich. Tatsächlich werden diese Zeitzeugen diese Szene in einem Wochenschaubeitrag im Kino oder erst später einmal im Fernsehen gesehen haben.
Hier irrt unser für gewöhnlich sehr gut informierter Notbremsen-Karl ein wenig:
Fernsehen gab es seit April/Mai 1955 sehr wohl schon hierzulande, wenn auch nur sehr rudimentär: Er wurden Versuchssendungen aus dem ehemaligen Schulgebäude Singrinergasse im 12. Wiener Gemeindebezirk als erstem Fernsehstudio ausgestrahlt. Freilich war die Zahl der Empfangsberechtigten gering, war ja nur ein Versuchsstadium und die Anzahl verfügbarer Fernsehgeräte war mehr als überschaubar. Dennoch: Es wurden aus einem Klassenzimmer als Studio ab Mai 1955 Fernsehsendungen ausgestrahlt. Da hätte sehr wohl ein Film über die Staatsvertragsunterzeichnung (Live-Sendungen gab's ja nicht) ausgestrahlt worden sein. Ab 1. Agust 1955 gab es dann öffentliche Versuchssendungen, daher ist dieses Datum der Start des heimischen Fernsehens, damals noch unter "Österreichischer Rundfunk - Fernsehen", vorerst auf Wien beschränkt. Fernsehsüchtig konnte man nicht werden, denn die Sendedauer betrug für den ganzen Monat heiße 12 Stunden! Das wichtigste Gerät war ein Filmabtaster. Die erste Sternstunde des heimischen Fernsehens war dann die (erste) Live-Übertragung aus der Staatsoper anlässlich der Wiedereröffnung am 5.11.1955. Und kurz vor Jahresende gab es dann die erste "Zeit im Bild" - bis heute die Marke für die Nachrichtensendungen des ORF. Das Fernsehstudio übersiedelte nach Schönbrunn (Maxingstraße), die ehemaligen Wien-Film-Studios und vormalige Orangerie, heute bewohnen Orang Utans die große Studiohalle (orang:erie). Bis zum 1.1.1958 lief die Ausstrahlung des Fernsehens unter "Versuchsprogramm", mit Neujahr 1958 gab's dann Fernsehen täglich regulär, vorerst mit einem Programm, mit 1961 gesellte sich nochmals ein Versuchsprogramm dazu, das "2. Programm". Das wurde aber anfangs nicht täglich ausgestrahlt (Dienstag und Donnerstag lange war "ein-programmig" ).
Wann bei der Mitzi daheim der erste Fernseher stand, müssten wir sie fragen. In ländlichen Gegenden, wo das Geld für die teure Ausgabe eines Fernsehers nicht so locker vorhanden war, traf man sich im Extrazimmer des örtlichen Gasthauses, um "fern zu schauen". Da trafen sich in der verrauchten Bude der Plotschentoni, der Plentenbauer Valte, der Brucknputzpepe, der Schlapfnschupfschursch, der Bruggnkeuschler, der Hoferbauer, die Watschlmarie, die Lina-Tante ... und die Mitzi. Die Frauen waren ja eher selten da, denn Fernsehen war ja nur am Abend und da mussten die Kinder zu Bett gebracht werden. Männer waren dabei nur störend - das Wirtshaus ein idealer Ersatzaufenthaltsort.
Apropos Störung: Die Sendeleistung war nicht berauschend, je nach Senderlage war das Bild besser oder schlechter, bei atmosphärischen Störungen rauschte und schneite es auch im Sommer. Das sonst ausgestrahlte Testbild ist ja mittlerweile Kult.
Ja, so war's ... seinerzeit, wie die Dampfloks noch unterwegs waren, als Fahrgast man auf der Plattform des Spantenwaggons die laue Sommerluft genießen konnte und die Bahnhöfe allesamt noch besetzt waren. Dort konnte man auch noch Bahnfracht aufgeben, und wenn es rasch gehen sollte, sogar Bahnexpress! Und der Pfarrer, der Gendarm, der Lehrer und der Herr Doktor auch im Wirtshaus beim Fernsehen anzutreffen waren.