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Der Fluch der Akribik, Teil 130
OFFENES HÄUSL FÜR DRINGENDE FÄLLE
Eigentlich wollte ich sämtliche Wagen zu einem späteren Zeitpunkt gemeinsam lackieren. Aber bei diesem hier verlor ich ein wenig die Beherrschung. DEN musste ich unbedingtjetztsogleichhieraufderStelle zumindest am Dach und am Bremserhaus mit den Grundfarben streichen:
Und das kam so:
Durch Axels phantastische Personenwagenumbauten war ich darauf aufmerksam geworden, wie faszinierend offene Türen sein können. So fiel mir beim Sichten alter Fotos schließlich auf, dass Bremserhäuser häufig offen standen. Dennoch widmen sich hartnäckig weder Modellbahn- noch Kleinserienhersteller diesem reizvollen Thema. Also ist Selbstbau angesagt, damit der Stockschaffner seinen Dienst tun kann und nicht ständig vor verschlossener Türe auf der Leiter hocken muss…
Ein Brawa-G10 mit einem „langen“ Vorkriegs-Bremserhaus liegt vor mir und wartet auf seine Individualisierung. Hier das zunächst noch unveränderte Bremserhaus:
Der Kunststoff der Brawa-Bremserhäuser lässt sich vergleichsweise recht gut schnitzen. Zuerst schneide ich mit einer scharfen Klinge die Türen aus. Die erhabenen Stege um die Türen dienen mir dabei als Lineal. Die Fenster in den Türen sind mir beim Schneiden im Weg, ich drücke sie zuvor vorsichtig heraus:
Nun entferne ich das vordere Fenster…
… und schabe Fensterrahmen und Nieten ab. Danach trenne ich die Bretter hinter den Türstehern und die Rückwand ab, kürze das Dach und feile es sorgfältig zurecht.
Rechts und links setze ich in die Fensteröffnung nun je zwei Bretter ein, welche ich aus einem zweiten Bremserhaus gewinne (von einem G10 mit abgebautem Bremserhaus). Zum Kleben verwende ich Essigesther aus der Apotheke.
Essigesther riecht wie die meisten Polystyrolkleber (und nicht ganz zufällig auch wie Nagellackentferner), ist dünnflüssig, fließt auf Grund des Kapillareffektes in feinste Ritzen, und es verdampft rasch. Das ist sehr praktisch, weil man es mit dem Pinsel dünn auftragen kann und was zu viel ist, entschwindet rückstandsfrei in die Atmosphäre. Somit gibt es keine Kleberpatzer.
Essigesther kann man aber auch inhalieren. Mein Apotheker stellt mir jedes Mal hochnotpeinliche Fragen, weil er, wie viele andere Leute auch, zunächst einmal davon ausgeht, dass ausschließlich er ein guter Mensch ist und dass alle anderen potentielle Einbrecher, Prostituierte oder gar Rechtsanwälte sein könnten.
Ich zum Beispiel könnte ja das Zeug schnüffeln wollen, um hin und wieder ein wenig high zu werden. Wenn der Apotheker allerdings erfährt, wofür ich es verwenden will, schiebt er mir freundlich schmunzelnd gleich einen Viertelliter über den Ladentisch, womit ich dann mehrere Jahre auskomme. Vermutlich geht mein Apotheker davon aus, dass ein Dämpfeschnüffler, der etwas auf sich hält, niemals freiwillig gestehen würde, dass er an einer Modellbahn baut - damit wäre wahrscheinlich sein Ruf in der Branche ein für alle Mal zerstört.
Nach dem Aushärten des Klebers feile ich die Vorderwand innen sorgfältig eben. Ich entferne sorgsam den erhabenen Rand um die Türöffnung, wobei die winzigen Scharniere stehen bleiben. Ich schabe und schleife die Türöffnung eckig.
Mittig in die Vorderwand setze ich wieder ein Blech mit einem 2mm-Loch ein. Der Durchmesser des Gucklochs beruht auf einer Schätzung, denn ich habe bislang keinen Plan gefunden, auf welchem ein kurzes Bremserhaus mit einem solchen Guckloch abgebildet gewesen wäre. -
Von den kurzen Bremserhäusern scheint es etliche Varianten gegeben zu haben:
- Türen mit oder ohne Fensteröffnung
- Seitliche Fensteröffnungen eckig oder rund, ganz oder teilweise mit Brettern verschlossen
- Vorderes Guckloch mittig oder seitlich
- Bremskurbel rechts oder links, hinteres Guckloch dem entsprechend rechts oder links
- Türen mit 4 breiten, 5 mittleren oder 6 schmalen Brettern
- Stirnwandprofile verlängert bis unter das Dach des Bremserhauses oder ein unverstärktes Bremserhaus (Profile nur bis zum Dach)
- etc.
Ich entschließe mich für fensterlose Türen mit 6 schmalen Brettern, denn die scheinen bei uns recht häufig gewesen zu sein. Die Bretter entstehen aus Polystyrolstreifen, die ich beim Verkleben fixiere, indem ich sie auf ein Post-It klebe:
Ein Türrahmen mit zwei Querstreben hält die Tür stabil. Die Rückwand setze ich aus einzelnen Brettern zusammen und klebe einen zugeschnittenen Kurbelkasten aus der Grabbelkiste auf. Der Giebel der Rückwand entsteht aus einem Stückchen Polystyrol.
Die Vorderseite des Bremserhäuschens schleife ich innen plan, ritze die Bretterfugen nach und klebe zwei waagrechte Polystyrolstreifen ein. Unten bringe ich noch einen schmalen Messingstreifen mit Nieten an:
Der Kurbelkasten hat eine recht hohe Wandstärke und wird innen noch ein wenig ausgehöhlt, damit die originale Brawa-Handkurbel hineinragen kann.
Von vorne sieht das (noch nicht gereinigt) jetzt so aus:
Auf den Boden des Bremserhauses klebe ich ebenfalls einen Messingstreifen mit Nieten:
Gemeinsam mit dem gleichartigen Streifen innen an der Vorderwand wird er nach dem Zusammenkleben ein L-Profil ergeben. Innen kommt noch ein herabgeklapptes Brett als Sitzgelegenheit hinein.
Das originale Brawa-Dach ragt ins Bremserhaus. Ich schneide es sorgfältig aus. Es ist nicht wirklich schwierig, den Schnitt ganz gerade auszuführen, sodass das Dach spaltenfrei an der späteren Rückwand anliegt, aber man muss sich für diesen Job halt viel Zeit nehmen. Wo das Dach ausgeschnitten wurde, füge ich einen Polystyrol-Streifen mit 0,8mm Höhe als Auflage für die Rückwand ein:
Hier sieht man auch, dass Brawa seine G10-Bremserhäuser, obwohl verschlossen, mit einer vollständigen Kurbel ausstattet. Das kommt meinem Unterfangen natürlich angenehm entgegen.
Das Bremserhaus ist nun provisorisch aufgesteckt und hat ein 3D-Blechdach-Decal bekommen, welches wieder Günter „Railboy“ Schultschik beisteuerte:
Da das Decal eine vergleichsweise "riesige" Fläche bedeckt und der Kleber nicht immer gleichmäßig aufträgt, kann es vorkommen, dass das Decal am Rand nicht ordentlich klebt. [Editiert:] Schultschik empfiehlt in diesem Fall, ASOA Schotterkleber oder einen gleichartigen, dünnflüssigen Kleber hineinzuträufeln. Es ist dabei nicht notwendig, das Decal anzuheben. Der dünnflüssige Kleber verteilt sich durch die Kapillarwirkung quasi von selbst. Wichtig ist dabei nur, dass es sich unbedingt um einen wasserlöslichen Kleber handeln muss. Lösungsmittelhaltige Kleber greifen das Decal an, sodass es sich kräuselt. Das ist dann nicht mehr korrigierbar.[Edit Ende]
Der Wagen erhält nun noch Federpuffer, Originalkupplungen, Bremsschläuche, Lösezüge und Bremsauffanglaschen.
Bevor das Bremserhaus endgültig aufgeklebt wird, muss es innen lackiert werden. Und da ich nun mal schon beim Lackieren bin, streiche ich mit dem Pinsel gleich das ganze Bremserhaus und das Dach – wie gewohnt mit stark verdünnter Farbe in mehreren Schichten. Ich will ganz einfach ausprobieren, wie die 3D-Decals wirken, wenn sie bemalt sind. Tatsächlich sorgt der Farbauftrag dafür, dass die winzigen Blechfalz-Nachbildungen nun deutlich plastischer wirken. Zwei Blechbahnen auf dem Dach dieses G10 sind offensichtlich vor nicht allzu langer Zeit schon einmal erneuert worden:
Was man hier auf dem ersten Foto ganz oben ganz deutlich erkennen kann: die undifferenzierte stete Forderung mancher Modellkritiker nach engen Bretterfugen hat logische Grenzen.
Exakt maßstäbliche Bretterfugen sieht man am Modell nämlich nicht, weil sie, wie hier, vom Lack erbarmungslos zugedeckt werden. Ich werde die Fugen an den Türen eventuell zu einem späteren Zeitpunkt ein wenig nachritzen müssen. Unmaßstäblich breit, damit man sie auch sieht.
Soviel zu meinem G10 mit den "abstehenden Ohren".
An dieser Stelle möchte ich kurz innehalten und euch allen vielen Dank für über 300.000 Besuche aussprechen!
Liebe Grüße
Euer Karl