Jahrzehntelang prägten hunderte Dampflokomotiven mit der Achsfolge 2B den Personen- und Schnellzugverkehr in preußischen Landen. Preußens Gloria auf Gleisen ist Geschichte, nicht eine dieser Maschinen hat die Zeitläufte überlebt. Oder gibt es doch einen Weg für Garbes Erbe in die Gegenwart?
Nun, es gibt Relikte, Fragmente - und, gemäß der altbewährten britischen Redewendung "where scrap is, is hope" - Hoffnung.
In den 90er Jahren machte in der Museumsbahnszene eine zunächst etwas krude wirkende Meldung die Runde. Jürgen-Ulrich Ebel, seines Zeichens unter anderem bekannter Autor nicht weniger, sehr geschätzter Baureihenbücher aus dem Eisenbahn-Kurier Verlag sei es gelungen, den Weißenfelser Schneepflug zu erwerben. Aus ihm, aufgebaut auf dem 2B-Fahrgestell einer P4.2, solle wieder die 36 363 (anfangs war von der 36 020 die Rede gewesen) entstehen. Ein Projekt, das man im Hinblick auf Umfang und Zielsetzung nur als ambitioniert bis sensationell bezeichnen kann - und gewaltigen Respekt abnötigt. Den Traum Jürgen Ebels, eines Tages eine P4.2 unter Dampf erleben zu dürfen - viele haben ihn damals geträumt.
Allerdings geisterten kurze Zeit später ganz andere Töne durch den "Buschfunk": Der - bereits verkaufte - Tender sei einer Meininger Verschrottungsaktion zum Opfer gefallen, weswegen Autor und AW sich nun im Rechtsstreit gegenüberständen. Projekt "P 4" sei tot.
Völlig überraschend tauchten Jahre später in DSO diese beiden Threads hier auf denen - für jeden nachlesbar - zu entnehmen war, dass das Projekt keinesfalls aufgegeben worden sei und die verbliebenen Teile der Lok auch nicht verkauft würden. Zwischenzeitlich seien europaweit Fachbetriebe, deren Arbeit noch bezahlbar sei, zur Nachfertigung der Hauptbauteile gefunden worden. Mit den Arbeiten solle - zunächst mit dem Bau des Rahmens - unmittelbar begonnen werden.
Dies ist mittlerweile auch schon ein knappes Jahrzehnt her; aktuellere Informationen zur Causa Weißenfelser Schneepflug habe ich nicht gefunden - vielleicht kann ja einer der Mitleser etwas dazu beitragen. In jedem Fall scheint das Körnchen Hoffnung auf eine Wiederauferstehung einer 36er wieder - oder noch immer, je nach Standpunkt - zu keimen.
Und da gibt es ja noch einen "Plan B":
Die Auffassung, dass eine Lok preußischer Konstruktion polnisches Kulturgut sei, mag durchaus diskutabel erscheinen. Aber es war und ist just jene Auffassung die dazu geführt hat, dass östlich von Oder und Neiße manche Maschine einer Baureihe erhalten blieb, die in der Alt-Bundesrepublik ausnahmslos den Weg in die Hochöfen angetreten hat.
Wie z.B. die preußische S6. Vom letzten in Deutschland gebauten Schnellzug-B-Kuppler, von der ehemals schwersten 2B Kontinentaleuropas und einstmals Preußens wirtschaftlichster Dampflok existieren in Deutschland nur noch Negative und Nachbildungen. Bereits vor 1931 ausgemustert ist ihre Ära über ein Jahrhundert her - es dürfte kaum noch einen Zeitgenossen mehr geben, der eine Reichsbahn-13.10 unter Dampf erlebt hat. Selbst als Bellingrodt vor über sieben Dekaden sein berühmtes Portrait der 13 1247 erstellt, ist das Feuer der Lok bereits erloschen und sie ihrer Lampen beraubt. Kein Wunder: 1912 von LHW als "Altona 656" abgeliefert, war ihr Stern schon längst versunken - falls er je richtig geleuchtet hatte. Knipping/ Hütter/ Wenzel schreiben über die "legendäre" Type: "Die preußische S 6 musste fast als Fehlinvestition gelten, da sie den steigenden Zuggewichten nicht gewachsen war - auch nicht in den "nordpreußischen" Flachlandstrecken. Robert Garbe war zu optimistisch gewesen, als er geglaubt hatte, eine mit Überhitzer ertüchtigte 2'B könne für den gesamten Schnellzugdienst im Flachland genügen." (In: Lokomotiven "Heim ins Reich", Eisenbahn-Kurier 2009, S. 325)
So wird auch die jetzt als 13 1247 bezeichnete Maschine bereits am 04.12.1928 ausgemustert und zum Lehrmodell des RAW Brandenburg degradiert. Die PKP reiht sie nach 1945 als Pd5-17 ein - was keinerlei Sinn macht: Unter dieser Nummer war vor 1939 die "Altona 639" (Henschel 10214, 1911) gelaufen, die nach der Besetzung Polens als 13 510 "eingedeutscht" wurde, um bei der Nachkriegs-PKP dann zur Pd5-4 zu werden (Ausmusterung zum 30.05.1954). Und um die Verwirrung perfekt zu machen lief auch die "Danzig 604" (Linke, Fabr.-Nr. 658/ 1909), spätere Pd5-40, Reichsbahnbezeichnung 13 523, nach dem Krieg als Pd5-17 (Ausmusterung zum 12.09.1951)! Das hieße, die Bezeichnung "Pd5-17" wäre von der PKP mindestens drei Mal vergeben worden (an die "Altona 639", die "Danzig 604" und die "Altona 656") - und im Falle der letzten beiden sogar zeitgleich! Welche Lok steht da bitte vor uns? Auch hinter der Warschauer Pm3 verbirgt sich bekanntermaßen ja nicht, wie lange geglaubt, die 03 1005...
Also: Experten an die Front! Vereinfachungshalber bleiben wir dabei, dass sich hinter der "Pd5-17" die 13 1247 verbirgt - wobei sich ganz nebenbei die Frage stellt, warum die Polen ein zersägtes Schnittmodell (wobei damit freilich unterstellt ist, dass die 13 1247 bereits 1928 als Anschauungsobjekt für das RAW Brandenburg "seziert" wurde und nicht erst unter polnischer Ägide) in ihren Lokbestand hätten aufnehmen sollen.
Bereits 1954 tritt dieser Quelle nach die Geheimnisumwitterte den Weg ins Eisenbahnmuseum Warschau-Glowna an, später wird sie Ausstellungsstück am Technikum Kolejowe in Warschau. Am 23.04.2010 wechselt sie erneut Standort und Besitzer, so dass man sie, als letzte ihrer Art, heute im Eisenbahnmuseum Skierniewice besichtigen kann.
Diese Lok weckt und weckte schon immer Begehrlichkeiten bei deutschen Eisenbahnfreunden, auch vor der Wiedervereinigung schon - wobei die oftmals verwendete Formulierung, die Lok nach Deutschland "heim" zu holen, absurd ist: Außer der geschmacklosen sprachlichen Analogie an unsägliche Zeiten sei auch noch daran erinnert, dass diese Lok auf dem Gebiet des heutigen Polen ihre Wiege hatte und wohl Zeit ihres Lebens dort stationiert war - (alt-)bundesrepublikanische Geleise dürfte sie wohl nie unter ihren Rädern gehabt haben. Und, wie Knipping/ Hütter/ Wenzel völlig zu recht und eindeutig zur P 6/ Oi2-29 ausführen, sind solche Lokomotiven "nicht wie gelegentlich phantasiert stille Reserve für den zukünftigen Bedarf einer zahlungskräftigen deutschen Museumsbahn und oder gar ... Verfügungsmasse für neuerliches Anspruchsdenken gegen unser Nachbarland, sondern ... wertvolle Erinnerungsstück(e) aus preußischer und polnischer Eisenbahngeschichte des 20. Jahrhunderts..." (a.a.O., S. 351).
Nicht zuletzt zeigt ein Blick auf die Heizerseite der Maschine, dass die Hoffnung, sie möge je wieder in Fahrt kommen, eine illusorische ist. Immerhin, sie existiert.
Aber - könnte man nicht...? Lassen wir die Gedanken Gassi gehen. Denken wir uns die genügend solvente deutsche Museumsbahn. Stellen wir uns vor, man wird mit den Verantwortlichen in Skierniewice und Pila handelseinig, sodass eines Tages unsere Pd5-17 ins ehemalige RAW Schneidemühl rollt.
Wo sie zerlegt wird, Stück für Stück, Schraube für Schraube. Und jedes einzelne Teil wird restauriert, dokumentiert - und dupliziert. Die Genese der Lok wird zum Projekt der Erhaltung, Anwendung und intergenerativen Weitergabe von Kulturfertigkeiten und -techniken im besten Mahler'schen Sinne der wusste, dass Tradition bedeutet Feuer am Brennen zu halten und nicht Asche anzubeten. Der demographische Wandel bedingt, dass eine ganze Generation wegstirbt ohne die Gelegenheit gehabt zu haben, ihr Wissen über die Dampflok, klassischen Maschinenbau und das gesamte Drumherum an Jüngere weitergegeben zu haben. Und große Teile dieses Wissens umfassen nun einmal explizit zum Bau einer Dampflok notwendige Fertigkeiten. Es klingt simpel, aber wenn man keine Dampfloks baut verlernt man, Dampfloks zu bauen. So einfach ist das. Eine S 6 kommt nunmal nicht aus dem 3D-Drucker.
In England ist man längst soweit, wie dieser Thread zeigt und diese Seite, die nicht weniger als mindestens drei Dutzend Dampflok-Neubauprojekte auf der Insel umfasst. Sicherlich, von einer schillernden Musumsbahnszene wie auf den Inseln ist man bei uns weit entfernt (wobei die Briten übrigens mit kontrafaktischen Lackierungen ebenso herzlich wenig Probleme haben wie mit Dampflokneubauten, wie man hier und hier sehen kann). Denn durch die Nachbaumaschinen werden nicht nur Kenntnisse des Dampflokomotivbetriebes und -baues in Folgegenerationen weitergegeben. Der Einsatz dieser Maschinen, die noch Jahrzehnte laufen können, entzieht einem anderen Argument die Grundlage: Dem der Zerstörung historischer Substanz. Um eine Lok unter aktuellen Konditionen betriebsfähig zu halten besteht die Gefahr, dass man sukzessive so viel von der alten Substanz erneuern muss - sprich: historisch Wertvolles entfernen - , dass vom ursprünglich zum Erhalt gedachten historischen Kern nichts mehr übrig ist. Man fühlt sich an Opas alten Hammer erinnert: Drei neue Stile, vier neue Köpfe, aber immer noch der gleiche Hammer! Außerdem birgt jeglicher Fahrbetrieb insbesondere bei historisch wertvollen Einzelstücken immer Zerstörungsgefahren. In England hat man kein Problem damit, eine "Standard" ins Museum zu stellen und mit ihrem Nachbau ihr Angedenken fahrenderweise hochleben zu lassen.
Warum nicht hier gleichermassen verfahren? Die Pd5-17 wandert, als mustergültig hergerichtetes Anschauungsstück, nach Skierniewice zurück; unsere "neue" S 6, die korrekterweise zur 13 1287 würde (bei der Reichsbahn liefen die S 6 als 13 1001 - 1286; die nach der Okkupation Polens hinzugekommenen Maschinen wurden eigenartigerweise nicht als 13 1287ff angegliedert, sondern als 13 501 - 556 eine eigene Unterbaureihe) lebendiges Exponat preußischer Ingenieurskunst im Deutschland des 21.Jahrhunderts. Technisch hielte ich dies für absolut machbar (Interlok-Gründer Hermann Schmidtendorf deutet Ähnliches im bereits oben verlinkten Thread auch an); was der S 6 fehlt, kommt aus dem "Preußen-Baukasten", und ein passender Tender wird sich ja wohl auch noch irgendwo auftreiben lassen. Passende Schnellzugwagen auch - in Heilbronn soll wohl eine komplette Halle damit voll stehen...
Originalaufnahme mit freundlicher Genehmigung von Horst Lüdicke
Genau diesen Traum habe ich mir mit diesem Bild erfüllt. Zunächst einmal wurde das viele Weiß, das in manchem polnischen BW im Übermaß vorhanden zu sein scheint, entfernt. Dann bekam die Pd5-17 eine Farbauffrischung, neue Kesselbleche, neue Armaturen, eine elektrische Beleuchtung und ihr Fabrikschild wieder, bevor sie abschließend verglast und beschildert wurde. Ich finde, insbesondere im direkten Vergleich zum Originalbild, das mir netterweise Horst Lüdicke zur Verfügung gestellt hat, ist es mir gelungen, ihr doch ein bisschen Leben einzuhauchen.
So hat sie hier in diesem Thread ihren verdienten Platz gefunden - wie die schwarze 01 1102, die blaue 01 1087 und die "150X227" eine echte "What if", die es nicht gibt, aber die es geben sollte. Nun gut, ich kann nur gimpen. Aber ich habe gehört, es seien 90 Millionen im Eurojackpot. Ich glaube, ich geh' mal kurz Lottospielen...
Grüße!
Christian