Hallo zusammen!
Natürlich kann und darf ich nur für mich sprechen. Doch meine ferrophile Sozialisation fand in den 70ern statt und ich mache keinen Hehl daraus dass meine Prägephase in der Blech-und-Guss-Ära verortet ist. Wer mein Alias kennt kennt mein Credo, und wer meine Beiträge kennt und liest - die meisten von Jerry netterweise hier zusammengefasst - mein ceterum censeo. Mein Sounddekoder heißt Gussklumpen auf Märklin-M-Gleis, meine Kurzkupplung heißt RELEX und meine Control Station ist ein brummender dunkelblauer Märklintrafo mit warmrot glimmender Kontrolllampe. Mein größter olfaktorischer Genuss ist der märklintypische Geruch den eine Lok aus dem Hause Göppingen nach langer Liegezeit verströmt, wenn auf ihren Motorwicklungen der Hausstaub verbrennt, und zu den schönsten optischen Eindrücken meiner Kindheit gehören die unvergesslichen und unnachahmlichen Illustrationen Rudolf Hannigs, in denen man regelrecht spazierengehen konnte. Ich bin gewohnt dass eine Lok die man auf die Gleise stellt auch fährt sobald man am Trafo dreht, und dass eine Modellbahn so haptil ist dass ein Vater Lok und Wagen seinem Sohn, der Onkel dem Neffen oder der Opa dem Enkel in die Hand drücken kann.
Nie käme mir in den Sinn anderen ihre Art der Auslegung und Auslebung dieses schönsten Hobbys der Welt zu vergällen geschweige denn in Frage zu stellen; jede Mutter hat schöne Kinder. Aber auch ich als bekennender Retro-Bahner fühle mich von der Frage angesprochen und, um es kurz zu machen: Ich bin noch verdammt hungrig.
Der Haken ist wohl mein Geschmack. Als Homo modellbahnerus maerkliensis bin ich dahingehend konditioniert, dass Loks eine 3000er und Wagen eine 4000er-Nummer haben. Diese Zeiten sind vorbei. Und leider, leider hat uns Märklin bestimmte Vorbilder nie im Zuge der 3000er-Serie beschert. Als findiger Bastler wusste man sich in den 70ern zu helfen. Da gab's zum einen die Variante "Hütchentausch" - Trix-Bügelfalte auf Fahrgestell Märklin 3034/ 37 z.B. Oder da entstanden aus zwei SK 800 eine 06, eine 82er auf Basis der Märklin-3005 oder eine E 91 auf zwei 3001er-Fahrgestellen. Die Bauanleitungen der damaligen Modellbahnkoryphäen in MiBa und Märklin-Magazin - ich verweise auf die wunderbaren Seiten von "nodawo" Wolfgang Renschler - empfinde ich bis heute als höchsten Lesegenuss und Ausdruck purer, vollendeter und unverkrampfter (und natürlich auch kompromissbereiter) Freude an der Eisenbahn; ganz anders als der heutige allgegenwärtige Hauch des Verdrusses der einen permanent durch diverse Foren begleitet, wenn mal wieder die Firma A aus B die Lok C auf den Markt gebracht hat, aber, Himmel, wie konnte man denn nur übersehen dass bei gerade dieser Lok und diesen Untersuchungsanschriften der obere Vorreiber an der Rauchkammertür eigentlich nie ganz zu war und von daher die Lok total falsch ist blablabla...
Die Alternative war, sich bei entsprechend dickem Geldbeutel (denn ich nicht aufzuweisen hatte) an die wenigen Modellbahnwerkstätten von damals zu wenden in der Hoffnung, dass diese - ich denke nur an die legendäre Modellbahnschmiede von Schnabel in Wiesau - einem das Gewünschte in einer Qualität und Ausführung, die sich an den Märklin-Lokomotiven der 3000er-Serie orientierte, anfertigten. Das taten die dann auch, aber eben gegen entsprechendes Salär: Wer eine Schnabel 06 wollte, musste erst zwei SK 800 anliefern - und dann kamen noch die Umbaukosten dazu! Ein vierstelliger Betrag für eine Schnabellok war eher die Regel als die Ausnahme - und das in den Siebzigern! Heute gehen Loks aus Wiesauer Produktion - zu meiner großen Freude, jedoch zum blanken Entsetzen der Vorbesitzer - manchmal zu zweistelligen (!) Eurobeträgen über den Tresen; kein Wunder. Denn dadurch, dass im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte immer mehr Vorbildtypen von Großserienherstellern realisiert wurden entfiel die Notwendigkeit zur teuren Handanfertigung von Einzelexemplaren.
Für mich hat die Modellbahnerei von heute viel Flair und Seele verloren; der Perfektionismus ist der Tod der Spielfreude. Davon, dass ich meinem Neffen eine superdetaillierte 500€-Digitallok nicht in die Hand drücken kann - eine 3048 aber mit den Worten "Stell's drauf und dreh auf!" sehr wohl - gar nicht zu reden. Eine Märklin-150 von heute spricht mich nicht an. Für eine 150 die aus zwei Primex-3033ern und zwei 3022-Drehgestellen entstanden ist bin ich hingegen bereit einen ordentlichen Betrag hinzulegen. Mein Hunger, den ich gestillt haben möchte, sind in der 3000er-Serie von Märklin nie umgesetzte Vorbilder. Die E 50 erwähnte ich schon. Ab und zu findet man auch einmal ein Produkt aus dem Hause Schnabel in der Bucht. Aber für z.B. eine solche Lokomotive aus dem Hause Märklin - womöglich noch als F-Zug-Set mit zwei blauen 346/6, einem roten 346/2 und einem blauen 346/3 im Retro-Karton - würde ich körperwichtige Teile hergeben.
Eine "großohrige" 3027 oder 3048, am Besten noch mit einem Karton im Stile Hannigs? A Traum. Genau das gleiche bei den Wagen. Wo bleibt der seit 50 Jahren überfällige 24cm-Blech-Buckelspeisewagen? Der passende Packwagen zum 4037, der "vierachsige 4003"? Für beide wäre ich bereit Beträge hinzulegen die höher wären als das, was man für ihre maßstäblichen langen und kurzgekuppelten Kunststoff-Pendants aktuell in der "Bucht" verlangt. Ein Tin-Plate-Preußenset auf Basis 4037? Schwelg!
So bärbeißig wie das Hobby Modellbahn andernorts gelegentlich dekliniert wird hat man ja das Gefühl, alte Märklin-Kataloge dürfe man nur noch nachts um drei heimlich unter der Bettdecke lesen, und im Modellbahnkeller habe man sich einzuschließen damit die Freude nicht nach außen dringt. Und doch kann ich mir nicht vorstellen dass die Retroianergilde so klein sein soll dass es sich nicht lohnt, sie zu bedienen. Wenngleich in mancherlei Diskussionen - auch hier - zum Thema "Retro" mancherlei gute und richtige Gründe gegen derartige Modelle vorgebracht wurden ist und bleibt meine Hoffnung diese, dass Märklin dieses Segment als Einnahmequelle zunehmend für sich entdeckt. Vielleicht sogar als eigene Produktlinie mit Neuauflagen, Farb- oder vielleicht sogar Formvarianten von Lokomotiven und Wagen aus den 60ern unter dem Namen "Märklin Classic"? Oder warum nicht gleich "Primex"? Und wenn's die Tante aus Göppingen nicht macht; vielleicht erbarmt sich ja dann ein Nischenhersteller der Tin-plate-Bahner. Warum nicht - Stichwort demographischer Wandel: Nie gab es so viele "Alte" (die Definition bleibt dem geneigten Leser überlassen) in der Gesellschaft, und noch nie waren diese so kaufkräftig. Das "Porsche-Syndrom": Mit 60 sich das leisten, was man mit 16 nicht haben konnte - warum nicht? Dieser Hunger - um auf die Eingangsfrage zurück zu kommen - ist und bleibt ungestillt. Und irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es nur mir so geht. Aber Träumen wird ja wohl noch erlaubt sein...
Grüße!
Christian