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Der Fluch der Akribik, Teil 222
BUNTE OSTERPREISER
Ich folge einer Empfehlung aus einem Buch von Jörg Chocolaty und bemale die untersten Schichten zuerst und die obersten zuletzt. Also zuerst die Haut, dann Hemd oder Bluse, dann Krawatte oder Halstuch, dann die Hose oder der Rock, und erst zum Schluss das Sakko, (sofern Beine noch vorhanden) die Schuhe und die Haare. Auf diese Weise können die Kanten meistens leichter scharf abgegrenzt werden als wenn man z.B. zuerst das Sakko bemalt und dann erst das Hemd.
Ich beginne also mit Gesichtern, Armen und Beinen. Dabei achte ich darauf, dass nicht alle Figuren exakt die gleiche Hautfarbe bekommen. Die Hautfarbe von Revell schien mir für mein Sommer-Projekt zu rosa, ich schied sie aus. Basisfarbe für die Hautbereiche ist bei mir nun eine Mischung aus Ocker, Weiß und Wasser – jeweils zu gleichen Teilen. Bei sonnengebräunten Figuren kommt noch etwas Braun (36185) hinzu:
Beim Auftragen der Hautfarbe darf ruhig ein wenig gekleckert werden. Die nächsten Farbschichten werden kleine Fehler ohne großen Aufwand gnädig abdecken.
Bevor es an die Färbung der Frisuren und der Kleidung geht, recherchiere ich ein wenig im Internet. Zunächst mit Begriffen wie „Mode 1955“, „Sommermode 1955“, „Kleidung 1955“ etc. Mit mäßigem Ergebnis. Google lieferte James Dean, die junge Katharine Hepburn, und zahlreiche Abbildungen internationaler Spitzendesigner – lauter elegant und teuer gewandete junge Damen mit extravaganten Hüten. Exakt so, wie im Provinzalltag von 1955 genau niemand herumlief.
Etwas mehr Aufschluss über die Alltagskleidung meiner „Epoche“ liefern schließlich Blätter aus einem Neckermann-Katalog von 1955, gegugelt mit [url= https://www.google.at/search?biw=1920&bi.....0.uCLwc1LQqn0 ]„neckermann mode 1955“[/url]. Begriffe wie „Busreise“, „Reisegruppe“ oder „Ausflug“ kombiniert mit Jahreszahlen um 1955 runden das Bild ab, was Durchschnittsmenschen damals auf Reisen tatsächlich trugen.
Auch Schnittzeichnungen aus Modezeitschriften aus dieser Zeit helfen weiter. Die Damen waren noch überwiegend Hausfrauen und als solche „selbstverständlich“ des Nähens kundig. So ahmten sie fleißig Kleider aus Modeheften nach, denen Schnittzeichnungen beilagen, auch wenn viele der emsigen Näherinnen auch hervorragende Köchinnen waren und – der peniblen kulinarischen Qualitätskontrolle wegen - bei weitem nicht so schlank wie die Models auf den Titelseiten dieser Zeitschriften. Auch wenn die Hüftbereiche ihrer Gewänder manchmal deutlich anders ausgeformt werden mussten als bei den jugendlich schlanken Vorbildern in den Modezeitungen, ein Maß wurde in den 50ern auf jeden Fall strikt eingehalten: Röcke und Kostüme mussten unbedingt ein Stück weit über die Knie reichen.
Die in den Modezeitschriften abgebildeten extravaganten Hüte konnte man üblicherweise mit häuslichen Mitteln nicht herstellen. Wenn das schmale Budget den Kauf eines schönen Hutes nicht zuließ, ließ man ihn einfach weg. Die eine oder andere mäßig begüterte Dame aus ländlichen Gefilden trug statt des Hutes ein schickes Kopftuch. Auch auf der Fahrt in den nächsten größeren Ort. Ganz ohne religiöse Motive und ganz ohne Migrationshintergrund.
Teilweise orientierte man sich noch an der Mode der 40er Jahre. Auf etlichen ländlichen Fotos aus den 50er Jahren sieht man noch Knoten in den Frisuren, kreisförmig um den Kopf gelegte Zöpfe, mit der Brennschere erzeugte Locken und an den Schultern mit Rüschen versehene Kleider. So mancher junge Herr war im Nacken hoch hinauf rasiert, oben herum hingegen durften die Haare lang sein. Als ob junge Männer zehn Jahre nach dem Krieg immer noch darauf gefasst sein mussten, schnell mal Gasmasken anzulegen.
Bei der Damenmode scheinen recht blasse Farben überwogen zu haben. An kräftigeren Farben scheinen lediglich Weinrot, Dunkelgrün, dunkle Blautöne und Gelb gebräuchlich gewesen zu sein. Türkis, grelles Orange, Pink oder Gelbgrün kommen auf den wenigen Farbfotos und auf den Schnittzeichnungen noch nicht vor. Diese Farben waren offenbar noch nicht verfügbar. Grelle Farben galten zudem als unfein. Wer also pinke, feuerrote, türkise oder zitronengelbe glänzende Hemden oder Blusen an seinen Modell-Figuren liebt und auf eine epochenrichtige Zuordnung Wert legt, der hat keine Wahl: er muss seinen Preisers zuliebe seine Epoche IIIa-Loks und –Wagen verkaufen und sich einer anderen Epoche zuwenden…
Ich arbeite also mit sogenannten „gebrochenen“, d.h. mit Weiß gemischten matten Farben. Gebrochene Beige-, Braun-, Grau-, Grün- und Blautöne sowie Weinrot und Altrosa eignen sich besonders.
Die Farben für meine Retro-Minis werden nur in homöopathischen Dosen benötigt. Richtig und falsch zugleich, denn „Dosen“ wären hier viel zu viel. Es werden nur winzige Farbmengen gebraucht, je Farbton gerade einmal eine Zahnstocherspitze voll, und dazu ein oder zwei Tropfen Wasser. Diese geringen Mengen laufen auf waagrechten, ebenen Flächen nicht davon. Auch die Wassertropfen nicht. Eben deshalb brauche ich zum Anrühren keine Dosen. Für das Mischen der Farben nehme ich jetzt eine Abreißpalette aus dem Künstlerbedarf:
Abreißpaletten bestehen aus etlichen Lagen wasserfesten Papieres. Ist die Farbe eingetrocknet, reißt man ein Blatt ab und kann auf dem nächsten weiterarbeiten. Diese Paletten werden meistens im Din A4-Format angeboten. Da das für meine Zwecke viel zu groß ist, halbiere ich sie mit einem scharfen Messer und gewinne auf diese Weise gleich zwei solcher Paletten.
Zügiges Arbeiten und immer wieder erneutes Mischen ist nun angesagt, denn ein erheblicher Nachteil der geringen Farbmengen soll hier nicht verschwiegen werden: sie trocknen enorm schnell.
Auf den Figuren übrigens auch, weshalb ich kaum bemalte Flächen rasch wieder anfassen kann. Trocknungszeiten spielen hier keine wesentliche Rolle. Auf diese Weise komme ich recht zügig voran.
Es galt nun, speziell im Bereich der Oberkörper die zeittypische Details anzudeuten: einfärbige helle Blusen oder Hemden, Gilets, selbstgestrickte Pullover, dunkle Krawatten, Hosenträger.
Dabei strebte ich einen möglichst hohen Detaillierungsgrad an. O.k., Ihr habt Recht, das wird später in den Waggons keiner sehen. Genau deshalb eignen sich diese sitzenden Figuren als Versuchsträger für etliche Experimente, die später Figuren zugute kommen sollen, die man an der vorderen Anlagenkante gut sehen wird können. Klappt der Versuch nicht, ist nichts verdorben, denn kleinere Fehler wird man im Wagen ja nicht sehen können.
Diese Figur hier beispielsweise diente als Versuchsträger für die Detaillierung eines zeitgenössischen Sommerkleides:
Auf grünem Untergrund wurden weiße Ränder auf Kragen und Ärmeln aufgemalt. Danach trug ich mit einem Ölgeber winzige weiße Punkte auf. -
Ein auf Reisen unverzichtbares Kleidungsstück war der heute kaum mehr bekannte Staubmantel, ein Mantel aus leichten, hellen Stoffen, der, wie Fotos belegen, auch in der Hochsommerhitze getragen wurde. Die gute alte Zeit war nämlich nicht nur gut und alt, sondern auch recht schmutzig. Etliche Preiser-Figuren wurden von all dem alten Dreck offenbar so traumatisiert, dass sie vorsichtshalber noch heute solche Mäntel tragen, wie dieser Herr mit der auffälligen Knollennase:
Für Puristen der Epoche IV und jünger ein No-Go, sind mir Figuren mit Staubmänteln hoch willkommen. Etwas Beige mit viel Weiß gemischt, und fertig ist die Farbe für den Staubmantel. Hemd und Sakko dürfen natürlich darunter hervorlugen.
Liebe Grüße
Euer Karl