Diese Maschine hatte ich vor langer, langer Zeit schon einmal vorgestellt:
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Damit jetzt keiner denkt, im AW habe man das Gehäuse verkehrt herum auf die Lok montiert und um dem Leser langes und mühseliges Zurückblättern zu ersparen, hier schnell nochmal ein kleiner Rückblick:
Wir tauchen wieder tief ein in die längst geschlagenen Schlachten alter Männer. Es geht um Einheitsloks, die nie waren, und die Frage, wohin der Weg der Einheitslokomotive hätte führen können - nachdem sich der Weg "06" als deutliche Sackgasse entpuppt hatte.
Zeitmaschine, jetzt minus 90 Jahre. In der Hauptverwaltung der Deutschen Reichsbahn rumort es. Mit der Bestellung der Reihe 01.10 dämmert den Verantwortlichen, dass man mit dieser Lokomotive, die den schweren Reisezugverkehr der Zukunft auf nichtelektrifizierten Hauptstrecken der Reichsbahn bewältigen soll, eine Type geordert hatte, die leistungsmäßig in nichts der konstruktiv 15 Jahre alten 01 überlegen war. Gut, das Drillingstriebwerk sorgte - theoretisch - für bessere Anfahreigenschaften*) und eine größere Laufruhe, verbrauchte dafür aber auch mehr Dampf und sorgte damit für einen erhöhten Kohlenverbrauch. Kurz: "Vom Drillingstriebwerk und von der Stromlinienverkleidung abgesehen war die 01.10 nichts weiter als die alte 01 von 1929", wie Manfred Weisbrod und Wolfgang Petznick in ihrem hervorragenden Baureihenbuch über die 01 (auf das ich mich im Weiteren hauptsächlich stütze, ich möchte nicht "guttenbergen") feststellen: Weder war eine Leistungssteigerung noch eine thermodynamische (lediglich aerodynamische in Form der Stromschale, die die Personale jedoch alsbald verfluchten) Verbesserung festzustellen. Der DRG war es eben "... nicht gelungen, eine Lokomotive zu entwickeln, die die Baureihe 01 an Leistung übertraf und in der Lage gewesen wäre, ihre Nachfolge anzutreten... ." Zudem zeigte der Blick ins Ausland, dass man dort - völlig losgelöst von irgendwelchen Einheitslok-Normalien - sehr wohl Lokomotiven in der Größenordnung der 01 zu bauen verstand, die an der 3000PS-Grenze kratzten ("Super-Pacifics" von Chapelon) oder diese rissen (Duchess-/ Coronation-Class von Stanier)**).
So erhielten die Borsig-Lokomotivwerke im August 1939 - also exakt zu dem Zeitpunkt, an dem die 01 1001 von Schwartzkopff abgeliefert wurde - den Auftrag zum Entwurf und Bau (!) von zwei stromlinienverkleideten Schnellzuglokomotiven mit Drillings- und Vierzylinder-Verbundtriebwerk als Vergleichsgrundlage für die Baureihe 01.10 - und zwar an Wagner vorbei, der noch bis Oktober 1942 im Amt bleiben sollte!
Bei Borsig ließ man sich nicht lumpen. Die Entwürfe sind so beeindruckend, dass sie es verdienen, allesamt hier kurz vorgestellt zu werden. Sicher musste man sich an gewisse Einheitsloknormalien halten. Aber man hat bei einem Blick auf die Entwürfe ein wenig den Eindruck, die Borsigianer wollten, nachdem man schon so viel Demütigungen aus dem Dezernat 23 über sich hatte ergehen lassen müssen, einmal zeigen, was, befreit von den starrköpfigen Baugrundsätzen, möglich ist.
Allen Entwürfen gemein war die Achsfolge 1'C2'. Noch auf der 24. Beratung des Lokausschusses war eine einzelne Vorlaufachse zur Führung im Gleis bei schnelllaufenden Lokomotiven verworfen worden - da fuhren in Österreich die 310 (1'C2') und die 214/ 114 (1'D2') schon seit 23 bzw. 6 Jahren über die Gleise. Weitere Vorgaben der Hauptverwaltung waren schlanke Dampfwege, 20kp/qcm Kesseldruck, eine Rohrlänge von nicht mehr als 5000mm sollte vermieden, eine geringere angestrebt werden. Ein Verhältnis Strahlungsheizfläche zu Rohrheizfläche von 1:8 hatte es bei der Reichsbahn noch nie gegeben. (Die 01 besaß eines von 1:14, die 06 von 1 : 14,35).
Der Kessel war bei allen vier Entwürfen identisch ausgeführt und erreicht mit 28qm Feuerbuchsheizfläche einen in Deutschland einmaligen Wert - das war fast das Doppelte der 85er und soviel wie bei der amerikanischen Baldwin Light Mikado (welche als 141R in Europa später zu Popularität gelangen sollte)! Selbst die Neubaukesselloks der DB der Reihen 01, 01.10 und 10 kamen nur auf 22qm. Dabei benötigten die Borsig-Kessel noch nicht einmal eine Verbrennungskammer - man war exakt den Weg gegegangen den der große André Chapélon eingeschlagen hatte, um bei der 231E und der 240P die erforderliche große Strahlungsheizfläche zu erzielen. Ein Schelm, wer...
Die Rostlänge betrug 3650mm, die Neigung 1:6, sodass der Brennstoff während der Fahrt durch die Rüttelbewegungen automatisch nach vorne gelangte und eine mechanische Rostbeschickung nicht erforderlich war.
Nach den Gemeinsamkeiten nun zu den Unterschieden. Entwurf I sah eine h4v mit Einachsantrieb auf der zweiten Kuppelachse vor, Entwurf II einen Zweiachsantrieb mit Antrieb der außenliegenden Niederdruckzylinder auf die zweite und der innenliegenden Hochdruckzylinder auf die 3. (!) Kuppelachse.
Entwurf III verfügte über einen konventionellen h3-Antrieb; Entwurf IV, auch eine h3, ebenfalls über einen Antrieb auf die 3. Kuppelachse.
Am spannendsten ist natürlich der h4v-Entwurf mit Antrieb auf die 3. Kuppelachse. Mir ist keine Dampflokomotive mit 2 Meter oder mehr Durchmesser messenden Treibrädern bekannt, auch aus den USA nicht, die einen Antrieb auf der 3. Kuppelachse gehabt hätte; dergleichen war noch nie gewagt worden (ungeschlagener Rekordhalter diesbezüglich dürfte die ÖBB-214 mit Antrieb auf die 3. Kuppelachse bei "nur" 1940mm Treibraddurchmesser sein). Im Vergleich zu anderen schnellfahrenden Dampflokomotiven der Reichsbahn dürfte dieser Antrieb den Borsig-"Adriatics" eine unerreicht gute Schwerpunktlage verliehen haben. Bei soviel Innovationsfreude vermisst man andere, fortschrittliche Elemente des Dampflokbaues jener Zeit - wie das Kylchap-Doppelblasrohr - fast.
In unserem Paralleluniversum werden die beauftragten Maschinen fertiggestellt und auf Herz und Nieren getestet; ich lasse mich zu der Aussage hinreissen, dass sich der Vierling durchgesetzt hätte und es zu dessen Serienbau gekommen wäre. Vierling konnte man mittlerweile auch im Norden; schließlich hatte Henschel unterdessen die S 3/6 in Lizenz gebaut und Düring selbst bestätigt, dass das Vierzylindertriebwerk der 04 erheblich besser durchgebildet war als das der 02. Ihr Erscheinungsbild wäre praktisch identisch gewesen mit dem der 01.10 und 03.10, auf den ersten Blick wären die Baureihen praktisch nicht zu unterscheiden gewesen (was dem Modellbauer sehr entgegenkommt). Im Reichsbahn-Nummernplan war für die "Adria"-Achsfolge die Baureihenbezeichnung 16 vorgesehen. Die war aber seit 1925 zunächst durch die oldenburgische S10 - eine 1'C1' - , später (ab 1938) durch die KkStB-310 belegt, die damit eigentlich beide - wie übrigens die S 2/6 alias "15 001" - falsch eingruppiert waren, war die "0" im Index doch den Einheitsloks vorbehalten. Somit wäre abermals nur die "Flucht in den Index" und damit nach dem Vorbild der 01.10 und 03.10 in die Hochzahl 10 geblieben; wir hätten es also mit den Lokomotiven 16 1001 ff. zu tun.
Als ich die Pläne zu diesen Maschinen vor Jahrzehnten erstmalig bei WEISBROD/ PETZNICK sah war die erste Frage, die sich mir stellte: Warum, zur Hölle, hat man angesichts dieser Entwürfe siebzehn Jahre später die 10 gebaut? Wir erinnern uns - und auch hier sei wieder das Baureihenbuch des EK empfohlen - an die unsäglich lange, fast möchte man sagen quälend lange Entstehungsphase der "Schwarzen Schwäne", die schließlich zu einem allseitigen Desinteresse der Beteiligten an den überschweren Pazifiks führte und sich endlich so lange hin zog, dass bei Baubeginn bereits die Nicht-Serienfertigung feststand. Ich stelle mir, während der Beratungen zur 10, eine Szene wie die folgende vor. Alle sitzen am Tisch und plötzlich ruft einer: "He Leute, ich hab' da was in der Schublade gefunden! Das sind die Zeichnungen zu einer Type, die ist schneller und stärker als die 10, flexibler einsetzbar und billiger wird's auch. Zügiger geht's sowieso, weil die Pläne schon durchgezeichnet sind. Lasst uns die bauen!" Nun ja, bekanntermaßen kam es anders, sodass man dank der neuen Baugrundsätze fast zwei Jahrzehnte nach den Borsigentwürfen eine Loktype schuf, die diesen praktisch in allen Bereichen unterlegen war...
Deshalb wechseln wir ganz schnell zurück in unser Paralleluniversum, in dem kein Krieg die Fertigstellung der 1'C2'-Renner hemmt (Moment. Kein Krieg, keine Bundesrepublik Deutschland, kein Wirtschaftswunder, keine Bundesbahn. Ups. Mit diesem Raum-Zeit-Kontinuum ist das gar nicht so einfach und man muss ganz schön aufpassen, über welche Einstein-Rosen-Brücke man geht...). Bei der jungen DB werden die Maschinen nach dem Vorbild von 01.10 und 03.10 entkleidet, was ihnen das gleiche, subattraktive Äußere mit abgeschnittener Rauchkammertür und deutlichem sichtbarem Vorwärmer beschert:
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Und möglicherweise hätte sich auch hier die Analogie zu ihren Schnellzugsschwestern ergeben, dass einige Maschinen einen zurückverlegten Vorwärmer erhalten hätten:
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Sieht schon besser aus. Lässt sich aber noch toppen. Und wie 01.10 und 03.10 auch hätten einige Maschinen einen Neubaukessel erhalten:
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Bitte nicht. Der aufmerksame Mitleser dürfte an dieser Stelle mit innerlichem Protest reagieren, hätte der DB-Neubaukessel mit nur 22qm Feuerbüchsheizfläche und völlig anderer Rohreinteilung den Borsigs einen spontanen Leistungsverlust von rund 700PS (!) beschert. Von der Heißdampfreglerproblematik gar nicht zu reden (ich erinnere nur an die "Wilde 13", die 03 1013) Also denken wir uns einen Kessel, nach den gleichen Bauprinzipien ausgeführt, jedoch vollständig geschweißt. Vielleicht hätte es ja wenigstens jetzt für ein Doppelblasrohr gereicht.
Sehr reizvoll ist natürlich die Idee, unseren wohlgelungenen Vierling mit einer Ölfeuerung auszustatten. Mit dieser wären die Adriatics wohl in den Leistungsbereich von 3200 bis 3300PS vorgedrungen, da schleicht sich die 221. Addieren wir noch die Elastizität und Reserven eines Vierlings wie der S 3/6 in der Leistungsbelastung***), dann steht die 16.10 deutschlandweit allein auf weiter Flur, und europaweit unter den Dreikupplern definitiv auf dem Treppchen.
Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Gebr. Märklin & Cie. GmbH
Wenn man sich überlegt, was Reichs- und Bundesbahn mit der 16.10 für eine Type in ihrem Stall hätten haben können, dann beißt man eigentlich innerlich in die Tischkante. Zugegeben, in einem Punkt hätte auch sie die 01 nicht überboten, nämlich in Sachen Reibungsgewicht. 60 Tonnen sind 60 Tonnen was nunmal soviel heißt wie 60 Tonnen. Die klaffende Lücke des fehlenden Schnellzugvierkupplers hätte auch sie nicht schließen können, aber allemal besser als die 01 und 01.10.
Nun, nichts hindert uns daran dies im Kleinen zu ändern. Von der 3089 Gehäuse abziehen, rumdrehen, draufsetzen, losfahren. Naja, fast. Zumindest in 1:87 hätte der beste deutsche Schnellzug-Dreikuppler, der nie war, seine Realisierung verdient.
Grüße!
Christian
*) nichtmal das: Wer sich über die Anfahr-Allüren der 01.10 informieren möchte, dem sei dringend das Baureihenbuch des EK über die 01.10 ans Herz gelegt
**) noch 1930 behauptete Wagner für die 01 - und zwar für die Variante mit 6,8m-Kessel - eine Leistung von 2600PS. Tatsächlich konnten bei Versuchsfahrten nie mehr als 2280PS erreicht werden. Hatte man in der ersten, 1926 vom EZA herausgegebenen Baureihenbeschreibung der 01 noch angegeben, dass die Lok in der Lage sei, in der Ebene eine Zugmasse von 800t mit 110km/h zu befördern, war im Merkbuch von 1931 nur noch eine Last von 430t bei 110km/h in der Ebene angegeben. Die vielgelobte 01 war mithin in der Lage, das ihr ursprünglich zugedachte Leistungsprogramm zu gerademal 53,75% zu erfüllen: Dies "...nahm das EZA (spätere RZA) ... mit Betroffenheit zur Kenntnis und sah von weiteren ... Publikationen (über die 01, Anm. d. Verf.) ... ab." (WEISBROD/ PETZNICK, a.a.O., S.34)
***) wer sich beispielsweise darüber informieren möchte über welche Reserven eine S3/6 verfügt, dem seien die Schilderungen zur Anfahrt des BEM-Sonderzuges durch sintflutartigen Regen zum Dresdner Dampflokfest 1996 empfohlen, als die 18 478 auf regennassen Schienen phasenweise alleine die Last des Sonderzuges - 601t! - zu schleppen hatte und noch die schleudernde 01 066 hinter sich herzog