Im Herbst 1915 entschloss man sich in Sachsen im Hinblick auf eine zu bauende, neue Schnellzugloktype, die allen Anforderungen gerecht werden sollte, zu Vergleichsfahrten mit Dampflokomotiven damals modernster Bauart. Zu dieser "Versuchsgruppe", die im BW Reichenbach gebildet wurde, gehörten eine XII HV, eine S10.2 und die spätere 18 465. Welch hohen Stellenwert die Fahrten hatten kann man daran ersehen, dass der Präsident der Sächsischen Staatsbahn, Dr. Ulbricht, und der Generaldirektor der Sächsischen Maschinenfabrik Chemnitz, Dr.-Ing.h.c. Krüger, auf den Führerständen der Maschinen mitfuhren. Das Versuchsprogramm sah die Beförderung eines 430Tonnen schweren Zuges auf der 10Promille-Rampe zwischen Werdau und Hof in der Beharrung mit 70km/h vor.
Immer wieder liest man, dass bei diesen Fahrten die bayerische Pazifik am besten abgeschnitten hätte, sodass man deswegen ernsthaft einen Nachbau der S3/6 erwog. Dem ist aber nicht so. Bei Düring ist zu lesen: "Die Versuche ergaben, daß keine der drei Lokomotiven imstande war, den 430 Tonnen schweren Wagenzug mit der geforderten Leistung zu befördern. Bei der sächsischen und preußischen Lokomotive erwies sich ... der Kessel als viel zu klein. [...] Bei der süddeutschen Lokomotive war der Kessel zwar nahezu ausreichend, die Dampfmaschine war jedoch für die Steigung zu schwach." Jedoch heißt es weiter: "Bei geringen Steigungen bewährte sich jedoch die süddeutsche Maschine sehr gut." Daher soll man sich, wie Kronawitter schreibt, "um einen Nachbau der S3/6 durch die SMF bemüht haben. Angeblich soll man bereits an Maffei wegen der Überlassung der Werkszeichnungen herangetreten sein. Da aber an eine Bezahlung von Lizenzgebühren nicht gedacht war, habe die Firma Maffei begreiflicherweise abgelehnt." Trotzdem zogen sich die Verhandlungen bis in den Sommer 1916 hinein, bis sie endgültig scheiterten.
Heute wissen wir, dass das Ergebnis dieser Fahrten die Beschaffung zweier Baureihen, der sächsischen 18.0 und der 19.0, des berühmten "Sachsenstolz" waren. Dennoch habe ich mir oft die Frage gestellt, wie eine in Lizenz bei SMF gefertigte S3/6 hätte aussehen können. Hier kommt das Ergebnis - die "sächsische Königin" kommt uns im späteren schwarzen Reichsbahn-Kleid entgegen:
Retusche nach einem Originalfoto mit freundlicher Genehmigung der Fa. Roco/ Modelleisenbahn Holding GmbH
Der optischen Unterschiede sind ziemlich wenige: Vorratswagen konnte man in Sachsen selbst bauen, für einen bayerischen Tender brauchte man keine Lizenzgebühren zu zahlen. So hängt hinter der sächsischen S3/6 der 2'2T31, wie er später tatsächlich mit der XVIII H und der XX HV gekuppelt werden sollte. Dem Lokalkolorit geschuldet ist die Rauchkammertür, um wenigstens ein bisschen sächsische Formensprachenidentität zu wahren. Vielleicht hätte man der Pazifik aus Chemnitz endlich einmal richtige Führerhausfenster nach bayerischem Vorbild spendiert; in den Worten Dürings gesprochen: "Wenn seine Erfinder wüssten, wieviel herzhafte Flüche braver Maschinenmänner das schmale Fenster schon bewirkt hat! Die Zahl der Mützen, die sich Lokführer und Heizer beim Hinauslehnen vom Kopf stießen, und die dann irgendwo am Bahnkörper vom Winde verweht schlummerten, wird sich nie ermitteln lassen!" Und, da in unserem Paralleluniversum die 18.0, wie wir sie kennen, nicht realisiert wird, geht diese Baureihenbezeichnung an den Lizenzbau nach Münchner Vorbild. Eine Nummernvergabe die mich, nebenbei bemerkt, immer irritiert hat, waren die "Nuller-Nummern" doch eigentlich den Einheitslokomotiven vorbehalten. Düring verweist auf die Ähnlichkeit der - tatsächlich realisierten - 18.0 "... mit den späteren Einheits-Schnellzuglokomotiven der Reichsbahn, insbesondere der leichteren Ausführung (BR 03)" hin. Vielleicht sollte aufgrund dieser "unverkennbaren Ähnlichkeit" (Düring) die Baureihenbezeichnung mit Nuller-Index ein Art Ritterschlag für die Sächsin sein, der sie in den Rang einer "Fast-Einheitslok" hob..?
Spannend ist nun natürlich die Frage, ob man - falls es zum Lizenzbau der S3/6 gekommen wäre - in Sachsen auch den zweiten Schritt gegangen wäre und einen Vierkuppler auf Basis der S3/6, eine S4/6, realisiert hätte. Aber das ist eine andere Geschichte - die uns auf seine wunderbare Art unser "Tegernseer", nunmehr "Münchner", bereits erzählt hat...
Grüße!
Christian